Überlebenswichtige Antibiotika den Menschen vorbehalten

Eine grundlegende Diskussion ist notwendig

Im EU Agrarsektor herrscht ein Tierhaltungssystem. welches auf schwachen Tieren beruht, die massenhaft Antibiotika zum Überleben benötigen. Dies geschieht in einem Ausmaß, das bedrohlich für uns Menschen ist. Mit der Tierarzneimittel-Verordnung, die im Januar 2022 in Kraft treten soll, will die EU-Kommission den Einsatz von Antibiotika strenger reglementieren und verringern. Dazu gehört, dass sie Reserveantibiotika definieren soll, die in Zukunft nicht mehr bei Tieren eingesetzt werden dürfen. Welche Antibiotika genau letztendlich davon betroffen sind, ist bislang noch offen. Eine Unterscheidung zwischen Masttieren und Haustieren wird dabei leider ebenfalls nicht ermöglicht und riskiert somit, dass manche Antibiotika Haustieren prinzipiell verwehrt werden. Warum das alles dennoch nur eine oberflächliche Behandlung des eigentlichen Problems ist, erklärt dieser Beitrag.

Das Problem: ein krankes System

Die „moderne“ Tierhaltung ist grundsätzlich fehlerhaft ausgerichtet: Tiere werden zu früh abgestillt, nur auf „Leistung“ gezüchtet (z.B. Milchabgabe bei Kühen oder Wachstum der Brust bei Puten), nicht artgerecht gehalten und können daraufhin kein robustes Immunsystem bilden. Um Krankheiten in der intensiven Masttierhaltung vorzubeugen, werden den Tieren bisher noch präventiv Antibiotika verabreicht (auch Prophylaxe genannt). Erkrankt ein einzelnes Tier jedoch, spricht man von Metaphylaxe, wenn daraufhin alle anderen Tiere behandelt werden.

Insgesamt ging der Verbrauch von Antibiotika in der Tierhaltung in den letzten zehn Jahren um etwa ein Drittel zurück, doch stieg er in einzelnen Ländern an (unter anderem Österreich, Polen, Zypern) und bleibt auf hohem Niveau (besonders in Italien, Spanien, Polen, Zypern). Ohne diese Verabreichung würden sich Krankheiten unter den Tieren in der Massentierhaltung schnell verbreiten, da sie in hoher Zahl auf viel zu engem Raum leben und keinen Auslauf haben. Kritisch bei der Antibiotikavergabe ist vor allem, dass Bakterien Resistenzen bilden, die sich dann nicht mehr durch das jeweilige Mittel behandeln lassen (manche Keime bilden Resistenzen gegen mehrere Mittel und werden dann auch „multiresistent“ genannt – im schlimmsten Falle kann ein Bakterium sogar „panresistent“, also resistent gegen alle existierenden Antibiotika, werden).

Solche multiresistenten Bakterien sind häufig im Fleisch, das wir im Supermarkt kaufen, zu finden. Eine Studie der Deutschen Umwelthilfe fand kürzlich heraus, dass in 31 Proben Putenfleisch bei jeweils Lidl und Aldi jede dritte bzw. jede vierte Probe mit antibiotikaresistenten Keimen belastet waren.

„Jährlich sterben rund 33.000 Menschen aufgrund fehlender Behandlungsmöglichkeiten.“

Ungefähr 670.000 Menschen infizieren sich jedes Jahr in Europa mit multiresistenten Keimen. Daran sterben dann jährlich rund 33.000 Menschen aufgrund fehlender Behandlungsmöglichkeiten.

Deshalb ist es wichtig, dass wir die Wirksamkeit von Reserve-Antibiotika schützen und das heißt, dass solche Antibiotika möglichst selten und nur dann eingesetzt werden sollten, wenn es keine andere Option gibt. Nur so können wir sicherstellen, dass wir auch in Zukunft bakterielle Infektionen zuverlässig mit Antibiotika behandeln können. Jene Antibiotika, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als sehr kritisch eingestuft werden und als Reserve-Antibiotika dem Menschen vorbehalten werden sollten, werden zu großem Teil auch in der intensiven Tierhaltung eingesetzt. Sarah Wiener erklärt, warum das für Menschen gefährlich ist:

„Wenn diese Notfall-Antibiotika weiterhin Nutztieren verabreicht werden, bilden sich immer weitere Resistenzen aus und die Anzahl unserer Behandlungsmöglichkeiten geht irgendwann gegen Null.“

So wird beispielsweise das Antibiotikum Colistin hauptsächlich in der Tierhaltung eingesetzt und wenig bei Menschen. Allerdings ist es oft das letzte Mittel der Wahl für Menschen, bei denen keine anderen Medikamente mehr wirken.

Aus diesem Grund hat es sich die EU mit der neuen Tierarzneimittel-Verordnung vorgenommen, Reserve-Antibiotika für Menschen zu bestimmen und diese nicht mehr für die Vergabe an Tiere freizugeben. Das Gesetz zielt zum einen darauf ab, Antibiotika-Vergaben generell zu reduzieren, um der Bildung von Resistenzen möglich wenig Chancen zu geben. Zum anderen sollten Reserveantibiotika definiert werden, die nicht mehr in der Tierhaltung angewendet werden dürfen. Damit soll die Wirksamkeit dieser Antibiotika bewahrt werden, damit sie weiterhin Menschenleben retten können. Wie eine neue Studie herausfand, sind Reserve-Antibiotika in der Masttierhaltung auch gar nicht essentiell. Es gibt nämlich ausreichend Ausweichmöglichkeiten auf andere Antibiotikagruppen. Auch wenn manche Länder einen sinkenden Gebrauch von WHO-designierten Reserve-Antibiotika verzeichnen, gab es mehr Länder mit einem steigenden Verbrauch in den letzten Jahren

Einspruch des Umweltausschusses

Die EU-Kommission legte nun im Mai 2021 einen delegierten Rechtsakt vor, der Kriterien für die Bestimmung von Reserve-Antibiotika festlegen sollte. Diese sind insofern strenger als die WHO Vorgabe, dass Reserve-Antibiotika nicht essentiell für die Tiergesundheit sein sollen. Dieses Kriterium ist problematisch, denn es könnte u.U. bedeuten, dass das vielfach angewendete Colistin (zur Erinnerung: von der WHO als Reserve-Antibiotika eingestuft)  nicht als Reserveantibiotikum eingestuft und somit weiter in der Tierhaltung eingesetzt werden könnte. Aufgrund dieses Schlupfloches des Kommissionsvorschlags und der daraus resultierenden Dualität zwischen Tier- und Menschengesundheit, legte der Umweltausschuss im Juli 2021 Einspruch gegen den Vorschlag ein. Laut diesem Einspruch sollte die Kommission einerseits die Kriterien anpassen um eine größere Anzahl als Reserveantibiotika zu definieren, andererseits sollte sie auch dafür sorgen, dass es strikt definierte Ausnahmen für die Einzelbehandlung von Tieren mit diesen Reserveantibiotika (z.B. von Haustieren) gibt, damit Tier- und Menschengesundheit nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Desinformationskampagne von Tierärzten

Der Bund praktizierender Tierärzte startete im Sommer 2021 eine auf falschen Behauptungen basierende Kampagne. Ein Bild mit einem ängstlich blickenden Hund kursierte auf der Hauptseite einer Petition zum Stopp des Einspruches gegen die Kommission. Der Vorwand ist, dass der Einspruch und Vorschlag des Umweltausschusses angeblich alle Antibiotika verbiete, und keine Unterscheidung zwischen Einzeltieren aufweise. In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall: nur Reserve-Antibiotika sollen beschränkt werden, aber als Mittel letzter Wahl nach vorheriger Prüfung bei Einzeltieren (ergo Haustieren) erlaubt sein. Damit riskierte der Verband, dass bei Ablehnung des Einspruchs durch den weiteren massenhaften Einsatz von Colistin Resistenzen gebildet werden.

Systemwechsel erforderlich

Diese Woche hat das Parlament den Einspruch des Umweltausschusses abgelehnt. Das bedeutet nun, dass die Kommission die Reserve-Antibiotika nach ihren Kriterien bestimmen kann. Das hat wiederum zwei Folgen: Erstens ist zu befürchten, dass kritische Stoffe wie Colistin, die nach WHO Empfehlungen verboten werden müssten, nicht auf die Reserveliste aufgenommen werden und dann weiterhin in zu großen Mengen eingesetzt werden. Im schlimmsten Fall könnten sich Resistenzen darauf verbreiten, die langfristig viele Menschenleben kosten. Zweitens, ein Reserve-Antibiotikum wird auch bei Einzeltieren nicht eingesetzt werden dürfen. Je nachdem, welches Medikament es trifft, könnten auch Haustiere dadurch Schaden nehmen.

Langfristig ist klar: Wir müssen weg von einer Tierhaltung, die auf Masse ausgerichtet ist. Antibiotika können größtenteils vermieden werden, wenn Tiere wesengemäß gehalten werden. Das heißt, dass sie bei ausreichend Platz und Auslauf Krankheiten nicht so leicht übertragen, und mit dem richtigen Futter ein stärkeres Immunsystem entwickeln, um dem vorzubeugen. Grundsätzlich setzt das voraus, dass Tiere nicht nur auf Leistung und Ertrag gezüchtet werden, sondern auch auf Gesundheit. An weiteren Behandlungsmöglichkeiten sollte die Wissenschaft nichtsdestotrotz mehr forschen, wie zum Beispiel an der Phagentherapie. Das ist eine Methode, bei der Bakterien mit Viren (Bakteriophagen) bekämpft werden und die sich in osteuropäischen Ländern mehrere Jahrzehnte bewährte.

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