Ernährungssicherheit: Die Mär vom rettenden Produktionsturbo

Warum wir den Green Deal und die Ziele der Farm-to-Fork jetzt nicht aufgeben dürfen.

Die russische Invasion in der Ukraine hat die Diskussion rund um Ernährungssicherheit in der Europäischen Union angeheizt. Welche Auswirkungen dieser Krieg auf die weltweite Lebensmittelversorgung hat, warum in der EU trotzdem keine Knappheit zu befürchten ist und wieso es fundamental falsch ist, jetzt Nachhaltigkeitsziele fallen zu lassen.

Was Sache ist: Die Ukraine und
ihre fruchtbare Schwarzerde

Die Ukraine ist ein wichtiger Akteur auf dem weltweiten Agrarmarkt. Das Land verfügt über ungefähr 30 Millionen Hektar besonders ertragreicher Ackerflächen und deckt damit nicht nur zehn Prozent des globalen Weizenhandels, sondern auch 50 Prozent des Weltmarktes für Sonnenblumenöl. Seit genau einem Monat herrscht in der Ukraine aber Krieg. Das hat auch Auswirkungen auf die Nahrungsproduktion: Schätzungsweise die Hälfte der Aussaatflächen für Sonnenblumen und Weizen können in den kommenden Wochen nicht wie geplant bestellt werden. Das trifft zuerst die Menschen vor Ort. Die Welternährungsorganisation FAO schätzt, dass circa 240.000 Menschen in der ländlichen Ukraine von Nahrungsmittelknappheit betroffen sein könnten. Genauso betroffen sind aber auch Länder in Afrika und im Nahen Osten, die von Getreideexporten aus der Ukraine abhängig sind. So stammen beispielsweise 90 % der ägyptischen Weizeneinfuhren aus der Ukraine und Russland. Kurzfristig muss die EU hier unbürokratische Hilfe leisten und etwa ihren Beitrag zum Welternährungsprogramm erhöhen.
 
In der Union selbst ist die Lage anders. Abseits von Sonnenblumenöl sind hier keine Versorgungsengpässe zu erwarten. Trotzdem steigen die Preise rapide an – nicht nur für Lebensmittel, sondern auch für landwirtschaftliche Rohstoffe. Besonders betroffen sind synthetische Stickstoffdünger und Kalidünger. Die EU importiert einen Gutteil – ganz genau sind es je 30 und 27 Prozent – dieser Ressourcen aus Russland und Belarus. Auch die Preise für Futtermittel explodieren.

Was die Agrarindustrie sagt:
Jetzt brauchen wir
mehr Produktion!

Diese Situation ist ein gefundenes Fressen für konservative Politiker und die industrielle Agrarlobby, denen die hart erkämpften Ziele des Green Deals und der Farm-to-Fork-Strategie schon länger ein Dorn im Auge waren. Sie plädieren nun dafür, die EU-Nachhaltigkeitsziele neu zu bewerten. Die Ernährungssicherheit in der Union sei in Gefahr, weshalb man sich die Umsetzung der Farm-to-Fork-Strategie schlicht nicht mehr leisten könne, so das Totschlagargument.
 
Diese orchestrierte Attacke zeigte auch schon erste Wirkung: So wurde etwa die lang erwartete Überarbeitung der Verordnung zum nachhaltigen Einsatz von Pestiziden in der EU auf unbestimmte Zeit verschoben. Zugleich hat die Kommission vorgeschlagen, dass Mitgliedsstaaten in Zukunft wieder selbst entscheiden können sollen, ob sie ökologische Vorrangflächen wieder in die Produktion nehmen wollen. Dabei handelt es sich um Flächen, die zum Schutz von Artenvielfalt und Biodiversität stillgelegt worden sind. Hier dürfen nun auch Pestizide ausgebracht werden!
 
All das ist mehr als zynisch. Denn wenn wir dem Druck der Agrarindustrie nachgeben, ziehen wir uns langfristig selbst den Boden unter den Füßen weg. Laut IPCC wird ein Drittel der globalen Äcker bis 2100 unfruchtbar sein, wenn wir unsere Böden weiter mit schweren Landmaschinen und synthetischen Düngemitteln und Pestiziden bearbeiten. Die Produktion weiter zu intensivieren ist jetzt also keine Lösung!

Was wir wirklich brauchen:
Umverteilung und die
versprochene Agrarwende

Vor allem angesichts der Tatsache, dass ein Großteil des Getreides gar nicht auf unseren Tellern landet. Rund 60 Prozent werden in der EU an Tiere verfüttert. Ein Gutteil fließt außerdem in Tankfüllungen: So werden in Österreich umgerechnet ein Fünftel der Ackerflächen für die Produktion von Agrokraftstoffen eingesetzt. Das sind etwa 260.000 Hektar Biomasse, die einfach für Treibstoff verbrannt werden. Demgegenüber stehen 9.000 Hektar ökologischer Ausgleichsflächen, die nun den großen Produktionsunterschied machen sollen. Zudem hat die EU ein massives Verschwendungsproblem: Ein Fünftel der Lebensmittel wird hier einfach weggeworfen. Das sind große Stellschrauben, an denen jetzt gedreht werden muss, wenn wir dieser Krise begegnen wollen. Konkret bedeutet das: Raus aus den Agrokraftstoffen und mehr Getreide für die Menschen.
 
Langfristig zeigt uns der Ukrainekrieg dagegen, wie dringend wie jetzt die Agrarwende schaffen müssen. Dafür brauchen wir die Farm-to-Fork und ihre Ziele: Von der Reduktion von Pestiziden, der Eindämmung von Mineraldünger und Lebensmittelverschwendung bis hin zur Förderung von Ökolandbau. Landwirtschaft muss kleinstrukturierter, nachhaltiger und resilienter werden. Industrielle Tierhaltung dagegen gehört dezimiert. Nur so können wir den Sprung schaffen: Raus aus der Abhängigkeit von agroindustriellem Input und rein in die Ernährungssouveränität.

Mehr Lesestoff:

Gemeinsam mit meinem Grünen Kollegen Benoît Biteau habe ich einen Blogbeitrag zu diesem Thema veröffentlicht (Englisch): https://www.greens-efa.eu/opinions/russia-ukraine-war-puts-global-food-security-at-risk/
 
Warum der Green Deal unsere Ernährungssicherheit nicht bedroht: Eine große Metastudie von Tamburini et al. kam zu dem Schluss, dass die Diversifizierung der Landwirtschaft im Gegenteil vielfältige Ökosystemleistungen fördert, ohne den Ertrag zu beeinträchtigen (Englisch): https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.aba1715

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