Pandemie, Krieg, Klima und Artenschwund: Grüne diskutierten mit Experten über Ernährungskrise

Transformation zur Agrarökologie statt exorbitanter Gewinne für die Agrarindustrie: Sarah Wiener und Martin Häusling diskutieren mit einer Expertenrunde über drohende Ernährungsunsicherheit.

Eine Explosion der Zahl hungernder Menschen auf der einen und extrem steigende Gewinne bei den Dünger- und Pestizidherstellern auf der anderen Seite: Die sich, in Folge von Pandemie und Ukrainekrieg, aber auch von Klimawandel und Artenschwund verschärfende Ernährungskrise wird die soziale Ungleichheit auf der Welt verstärken. Darin waren sich die Teilnehmenden einer Diskussionsrunde der Grünen Europaabgeordneten Sarah Wiener und Martin Häusling am Mittwochabend rasch einig. Sie stimmten zudem überein in der Forderung, die fatale Abhängigkeit der konventionellen Landwirtschaft von fossilen Energieträgern so rasch wie möglich zu beenden und die als unabdingbar empfundene agrarökologische Transformation zu beschleunigen.

„Alle denken nur ans eigene Supermarktregal“

Europa, monierte Martin Häusling, agrarpolitischer Sprecher der Grünen im Europäischen Parlament und Mitglied im Umweltausschuss, verliere den globalen Blick auf die wachsende Ernährungskrise. „Alle denken nur an ihr eigenes Supermarktregal“, statt auch daran, wie die aufkommende Katastrophe sich auf die Hungernden der Welt auswirkt, die mangels Geldes kaum Zugang zu Nahrungsmitteln haben. „Wo sind die Bilder als Nordafrika?“ fragte Häusling und kritisierte eine fahrlässige, ignorante Binnensicht auf Europa. Häusling fordert die EU-Kommission auf, nicht nur ein Programm zur Unterstützung der europäischen Landwirte, sondern auch ein Programm zur Bekämpfung des Hungers und zur Unterstützung der Landwirtschaft im globalen Süden aufzulegen.

Die Grünen-Abgeordnete Sarah Wiener vermisste zudem, dass auf EU-Ebene praktisch nicht darüber gesprochen werde, wie die seit langem bestehenden Krisen in Form von Biodiversitätsverlusten, Pestizidvergiftung, Klimawandel, Boden- und Nutztierprobleme die jetzige Krise extrem verstärkt haben. Diese älteren Krisen werden nun durch die Folgen des Ukrainekriegs überschattet, müssten aber bei den Lösungen ebenfalls im Zentrum stehen. Denn nur nachhaltige, resiliente agrarökologische Systeme könnten auf Dauer Ernährungssicherheit garantieren.

Die Düngermittelindustrie verdient sich eine
goldene Nase

Die beiden Grünen-Politiker*innen unterstützten Forderungen der Experten Alexander Müller, Professor Peter H. Feindt und Lena Bassermann, das Welternährungsprogramm unverzüglich aufzustocken. Lena Bassermann, Referentin für Welternährung und Globale Landwirtschaft bei der entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisation Inkota, wies darauf hin, dass die Diskussion um die finanzielle Ausstattung dieses Programms alt und fatalerweise nie etwas geschehen sei. Die Expertin plädierte dafür, den Beimischungszwang für Pflanzensprit abzuschaffen, um damit Platz für den Anbau von Lebensmitteln zu gewinnen. Sie warb zugleich für einen Hilfsfonds für Biodünger, statt weiter große Summen als Blanko-Subventionen für chemischen Dünger auszugeben. Subventionen würden letztlich nur die Gewinne der Düngerhersteller weiter aufblähen, wie Bassermann anhand von Zahlen der Produzenten Yara und K+S deutlich machen konnte: Deren Profite wachsen offenbar gerade in der Krise, denn ihre Mehrausgaben für Energie oder Transporte würden durch steigende Einnahmen überkompensiert.

Eine absehbare Krise

Tatsächlich, belegte Alexander Müller, Ex-Staatssekretär im Bundesland-wirtschaftsministerium sowie früherer stellvertretender Direktor der Weltlandwirtschafts-organisation FAO und heute als Geschäftsführer und Mitgründer des TMG Think Tank for Sustainability aktiv, anhand aktueller Zahlen, dass sich die Krise bereits Monate vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine abzeichnete: Die Düngerpreise stiegen bereits seit dem Herbst vergangenen Jahres, und inzwischen befindet sich der Food-Price-Index auf einem Allzeithoch. Doch im Gegensatz zur letzten Welternährungskrise 2008 reagiere die Welt kaum, auch die FAO halte unverständlicherweise die Füße still. Es sei dringend erforderlich, dass sich die Länder der Erde an einen Tisch setzten, um die Krise zu bewältigen. Da dies offenbar unmöglich sei, appellierte Müller an die G7-Staaten, zusammen mit den besonders betroffenen Ländern einen raschen Weg aus der Ernährungskrise, deren Umfang noch nicht abschätzbar sei, zu suchen. Im Zentrum müsste dort neben der akuten Bewältigung unbedingt ein Punkt stehen: „Wir brauchen einen zehnjährigen Transformationsprozess“, der zu einem agrarökologischen, von fossilen Energien unabhängigen Agrarsystem führe. Komme dies nicht, „wird es bitterböse enden“.

Jetzt auf Agrarökologie
setzen

Professor Peter H. Feindt, Leiter des Fachgebiets Agrar- und Ernährungspolitik an der Berliner Humboldt-Universität, warnte ebenfalls davor, dass kurzfristige Maßnahmen zur Produktionssteigerung langfristig problematisch wirkten. Denn eine etwaige Flächenausweitung treffe unter anderem rasch auf weitere, kaum hinnehmbare Biodiversitätsverluste. Schon bisher habe die Agrarpolitik den Fokus zu wenig auf resiliente Agrarsysteme gelegt. So dürfe auch das Farm-to-Fork-Paket der EU jetzt keinesfalls ausgehebelt werden. Statt knappe finanzielle Mittel zugunsten kurzfristiger Effekte auszugeben, gelte es, langfristig wirksame agrarökologische Konzepte zu verfolgen.

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